ZEIT ONLINE - BERND ULRICH JULY 16, 2021
Kanzlerkandidatur: Armin Laschet: Nun steht er da und weiß nicht weiter.
Vermisst, das sagt sich so einfach. Aber es bedeutet ja Hunderte vergebliche Anrufe auf dem Handy, hundertmal die vertraute Stimme, aber nur auf der Mailbox. Vermissen, das heißt hoffen, bangen, sich wälzen, Behörden anrufen. Und es bedeutet den vergeblichen Kampf gegen die Bilder im Kopf vom Ertrinken im eigenen Keller, von Leichen in den reißenden Flüssen, die gestern noch gurgelnde Bäche waren.
Immerhin schaut die Öffentlichkeit da jetzt hin, das Leid der Menschen in den Hochwassergebieten wird gesehen und es wird, wo überhaupt möglich, gelindert. Bei den Hitzetoten dieses Sommers ist das anders, sie sterben still vor sich hin, Jahre früher, als es ohne das, was nun technokratisch "zunehmende Wetterextreme" genannt wird, der Fall gewesen wäre.
Nun merken wir es erneut und wollen es doch spätestens morgen wieder nicht wahrhaben: Menschen werden Opfer der Klimakrise, nicht irgendwann, sondern jetzt, nicht nur woanders, sondern auch hier. Erneut – zum wie vielten Mal eigentlich? – steht die Frage im Raum: Ist es uns das wert? Wollen wir die Flächenversiegelung für noch ein Möbelhaus und die nächste Autobahn – und so das Wasser in rasendem Tempo in die Täler zwingen? Wollen wir das Ende der fossilen Zerstörung weiter verschleppen, solange bis sich die Zahl der "Extremwetterlagen" neuerlich vervielfältigt hat?
Das sind zutiefst politische Fragen, weswegen der Blick nun auch auf die Politik fallen muss. Zumal sich diese Nichtnaturkatastrophe inmitten des ersten Klimawahlkampfes in der Geschichte der Republik abspielt.
Und was sieht man da? Einen Kanzlerkandidaten der CDU, dessen operative, kommunikative und gestische Fahrigkeit einem Angst machen muss. Armin Laschet hat nun binnen zweier Tage dreimal seine Meinung geändert. Erst hat er das – im Übrigen nur mäßig ambitionierte – Klimapaket der EU als zu forsch kritisiert. Dann im Angesicht der Fluten ein höheres Tempo beim Klimaschutz verlangt, wobei man sich schon fragt: Von wem eigentlich?! Um schließlich im dritten Schritt Änderungen an seiner eigenen Klimapolitik zurückzuweisen.
Der Kanzlerkandidat hat sich bei der Klimapolitik, nein, bei seinem ganzen Wahlkampf der strategischen Ambitionslosigkeit heillos verstrickt. Welche Anmaßung ist das auch: Bei dramatischen Anforderungen an die Politik, inmitten unausweichlicher Veränderungen und ernster Krisen, möglichst wenig zu sagen, davon die Hälfte zurückzunehmen und mit allem den Menschen zu versprechen, dass sich in ihrem Leben nicht viel ändern wird – das würde doch voraussetzen, dass sich die vielfältigen Krisen dieser Welt mit Rücksicht auf die CDU bis zum Wahltag zurückhalten. Im Grunde ist Laschets Wahlkampf eine einzige Verweigerung, ein Skandal des Unterlassens.
Aber macht er es nicht wie Merkel, ist das nicht Erfolg versprechend? Sagen wir so: Armin Laschet ist Angela Merkel jetzt so ähnlich, wie sie es nie war. Gegen seine Programmlosigkeit war sie eine Mischung aus Heiner Geißler und Peter Glotz. Gegen seine Sprachlosigkeit war sie Cato und Cicero in einem. Gegen seine Wutknopfigkeit war sie Buddha. Laschets Klimapolitik wiederum, wenn man sie denn so nennen will, beruht auf einer ganzen Armee von Abers und aus dem Versprechen der völligen Unmerklichkeit und umfassenden Zumutungsfreiheit.
Was für ein Unterschied zu Frans Timmermans, dem Vizepräsidenten der EU, der das Klimapaket mit den Worten vorstellt, das werde "bloody hard". Was es wird, vielleicht wird es darüber hinaus auch "as fun as hell", jedenfalls kann die Klimawende, das Ende unserer durchfossilisierten Lebensweise nicht passieren, ohne dass sich für sehr viele Menschen sehr viel ändert. Das sind Zumutungen, ja vielleicht, aber was im Leben geht schon ohne Zumutungen? Geht das mit Verzicht einher? Ganz gewiss, nichts Großes auf der Welt geht ohne Verzicht. In diesen Tagen ist denn auch schmerzlich zu beobachten, wo die eigentlichen Zumutungen liegen: in den Folgen der Klimakrise, die zu beheben Armin Laschet keine ernst zu nehmenden Anstrengungen unternehmen möchte.
Nun steht er da und weiß nicht weiter. Oder hat Armin Laschet wirklich gedacht, er könne es machen wie Merkel: programmatisch wenig vorgeben, die Menschen nicht beunruhigen, um dann das Momentum einer Krise zu nutzen, um die notwendigen Veränderungen doch noch nachzuholen? Offenbar fehlen ihm dazu Mut, Präzision und Nerven. Der Kanzlerkandidat der CDU versucht bislang nicht mal, diese Krise politisch zu nutzen, wie es Merkel tun würde und dazu auch in der Lage wäre, wenn ihre Zeit nicht vorbei wäre. Stattdessen bemüht er sich, den politischen Folgen der Krise auszuweichen, daher sein dreimaliges klimapolitisches Schwanken binnen zweier Tage.
Wir erleben einen Realpolitiker auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Dabei könnte er ja etwas tun, statt nur etwas zu fordern. Zum Beispiel den ökologisch deutlich glaubwürdigeren Norbert Röttgen zum Klimabeauftragten in seinem Team berufen. Dann wäre das blasse Wahlprogramm der Union zwar perdu, aber das nimmt Laschet selbst ja nicht wirklich ernst, wie bei der Steuerpolitik gut zu besichtigen war.
Oder was soll jetzt passieren, wenn nicht auch echte Politik? Die kaputten Dörfer und Städte werden aufgeräumt, die Toten begraben, vielleicht ein Staatsakt, bei dem auch der Bundespräsident nicht umhinkäme, das Wort in den Mund zu nehmen, das die Kanzlerin in ihrem ersten Statement aus den USA sogleich gesagt hat: Klima.
In diesem Wahlkampf wurde bisher so getan, als ginge es bei der Klimakrise um die Grünen oder um die Pendler oder um die Bergleute, deren Tagebaulöcher gerade volllaufen. Aber das stimmt nicht: Es geht zuallererst um die Opfer. Und es geht um die Freiheit. Was dieses Land jetzt erlebt, das ist der Beginn einer Kaskade von Krisen, es sind Notstände, die einander ablösen oder gar überlappen.
In Belgien wurde gerade ein grenznahes Atomkraftwerk runtergefahren, in Ostdeutschland ist soeben die Schweinepest angekommen, ja was glaubt man denn, wo wir leben, was wir uns angerichtet haben? All das schränkt Freiheit ebenso unerträglich ein wie eine verschleppte, lustlose, unambitionierte Klimapolitik, die Armin Laschet so idealtypisch verkörpert. Auf diese Weise werden Maßnahmen verschoben, die dann in der nächsten Runde mit doppelter Macht und dreifachem Tempo doch vollzogen werden müssen. Die CDU scheint die Grundregeln der ökologischen Krise nicht verstanden oder nicht verinnerlicht zu haben:
Wer sich Zeit nimmt, raubt sie anderen.
Ein Schritt in die richtige Richtung im falschen Tempo ist ein falscher Schritt.
Freiheit ohne Klimapolitik ist eine Illusion, eine verfassungswidrige obendrein.
In diesen schmerzlichen Tagen ist aber noch eine weitere Dimension der Klimapolitik zu spüren. Und da geht es um unsere Würde als Volk oder sagen wir es profaner: als Gesellschaft. Wie viele Opfer sind wir bereit, der Macht der Gewohnheit zu bringen – und diese Opfer zugleich zu verleugnen? Wie lange wollen wir uns ablenken und teilverblöden, um die existenzielle Krise im Mensch-Natur-Verhältnis nicht annehmen zu müssen? Wie lange wollen wir mehr Energie in die Verdrängung der Krise stecken als in ihre Bekämpfung?
Der Wahlkampf von Armin Laschet setzt auf die Trägheit der Menschen, er heiligt ihren Anspruch auf ein Weiter-So und er raubt ihnen zugleich die Chance, diese Krise als Chance zu leben und anzugehen, für ihre Würde, ihre Freiheit, ihre Sicherheit, ihre Kinder. Das Gebot der Unmerklichkeit wirkt ja in zwei Richtungen: Es verspricht, was es nicht halten kann, also dass nicht viel passiert. Und es verwehrt den Leuten die Chance darauf, sich als Handelnde in ein nicht neurotisches Verhältnis zur Krise zu bringen. Laschets klimapolitischer Aber-Albtraum zeigt, wie recht Martin Luther hatte: Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz.
Nun kollabiert Laschets Non-Wahlkampf offenbar. Man darf gespannt sein, was der CDU noch einfällt. Vor allem aber muss den Opfern geholfen werden. Und dann muss eine Politik her, die künftige Opfer vermeidet.
Wetter ist kein Schicksal. Laschet auch nicht.