Jörg Lohrer
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    # Stämme, Institutionen, Märkte, Netzwerke *Ein Rahmenwerk über gesellschaftliche Entwicklung* *David Ronfeldt* *ins Deutsche übersetzt von Jörg Lohrer* Ein wesentlicher Grundsatz der Informationsrevolution ist, dass sie "vernetzte" Organisationsformen begünstigt und stärkt. Dies ist sinnvoll, weil die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien - wie z.B. Faxgeräte, elektronische Post (E-Mail) und Computer-Konferenzsysteme - verteilte, oft kleine Akteure in die Lage versetzen, sich zu verbinden, zu koordinieren und gemeinsam zu handeln wie nie zuvor. Der Grundsatz wird zunehmend bestätigt durch den Aufstieg von web-ähnlichen Netzwerken aus Umwelt-, Menschenrechts- und anderen aktivistischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), von Unternehmen, die strategische Partnerschaften eingehen, und von interagierenden Gruppen, die auf vielen Regierungsebenen weltweit tätig sind. Im Allgemeinen sind nichtstaatliche Akteure den staatlichen Akteuren bei der Nutzung der neuen Netzwerkdesigns voraus. Macht und Einfluss scheinen auf Akteure abzuwandern, die in der Lage sind, multiorganisatorische Netzwerke zu entwickeln und in Umgebungen zu operieren, in denen Netzwerke eine geeignete, sich ausbreitende Organisationsform darstellen. In vielen Bereichen der Gesellschaft gewinnen sie im Vergleich zu anderen, vor allem hierarchischen Formen an Stärke. Dieser Trend - der Aufstieg vernetzter Organisationsformen - befindet sich zwar noch in einem frühen Stadium, ist aber bereits ein sehr wichtiges Thema für die theoretische Forschung und Politikanalyse. Viel Interessantes lässt sich schon allein dadurch erreichen, dass man sich auf diesen Trend konzentriert. Zugleich ist der Trend so stark, dass er im Blick auf die Zukunft große Veränderungen in der Organisation von Gesellschaften erwarten lässt - wenn nicht Gesellschaften als Ganzes, dann zumindest wesentliche Teile ihrer Regierungen, Volkswirtschaften und insbesondere ihrer Zivilgesellschaften. Der Aufstieg der Netzwerkform sollte zum Teil im Hinblick darauf analysiert werden, wie sie mit anderen Grundformen gesellschaftlicher Organisationsformen verwoben ist und mit ihnen in Beziehung steht. Aber was sind das für andere Formen? Dieses Papier ist durch die Frage angespornt, wie weit diese Beobachtungen vorangetrieben werden können. Das Ergebnis ist ein aufkeimender theoretischer Rahmen, um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften zu verstehen. Dieses Papier umreißt den Rahmen, stellt einige seiner Dynamiken fest und schließt mit einem Kommentar zu einigen politischen Implikationen. ## Formen, die der Organisation von Gesellschaften zugrunde liegen. Welche Formen sind für die Organisation von Gesellschaften von Bedeutung? Wie haben die Menschen ihre Gesellschaften über die Jahrhunderte hinweg organisiert? Die Antwort kann auf vier grundlegende Organisationsformen reduziert werden, wie in Abbildung 1 dargestellt: der verwandtschaftlich orientierte Stamm, wie er durch die Struktur von Großfamilien, Clans und anderen Abstammungssystemen beschrieben wird; die hierarchische Institution, wie sie beispielhaft durch die Armee, die (katholische) Kirche und letztendlich den bürokratischen Staat veranschaulicht wird; der Wettbewerbsmarkt, wie er durch Kaufleute und Händler, die auf die Kräfte von Angebot und Nachfrage reagieren, symbolisiert wird und das kollaborative Netzwerk, wie es sich heute in den webähnlichen Beziehungen zwischen einigen NGOs, die sich der sozialen Fürsprache widmen, wiederfindet. Jede Form, repräsentiert letztendlich ein ausgeprägtes System von Überzeugungen, Strukturen und Dynamiken darüber, wie eine Gesellschaft offensichtlich organisiert werden sollte - darüber, wer was, warum und wie erreichen kann. Jede Form zieht unterschiedliche Typen von Akteuren und Unterstützern an und bindet sie ein, wobei die ersten Versionen aller vier Formen bereits in der Antike vorhanden waren. Aber als bewusste, formale Organisationsentwürfe mit philosophischem Vorzeichen haben sie in den letzten 5000 Jahren in unterschiedlicher Geschwindigkeit an Stärke gewonnen und sind in einer anderen historischen Epoche gereift. Stämme entwickelten sich zuerst, dann hierarchische Institutionen und später wettbewerbsfähige Märkte. Der Aufstieg der einzelnen Formen wird im Folgenden kurz besprochen, als Auftakt für die Zusammenstellung der vier in einem Rahmen, der derzeit als "SIMN-Rahmenwerk" (englisch: TIMN-Framework) bezeichnet wird, der die langfristige Evolution von Gesellschaften beschreibt. Das fortwährende Argument ist, dass diese vier Formen - und offensichtlich nur diese - der Organisation aller Gesellschaften zugrunde liegen, und dass die historische Entwicklung und zunehmende Komplexität der Gesellschaften eine Funktion der Fähigkeit war, diese vier Formen der Steuerung von einer scheinbar natürlichen Entwicklung zu nutzen und zu kombinieren. Während die Stammesform zunächst die Gesamtorganisation von Gesellschaften beherrschte, hat sie im Laufe der Zeit insbesondere den kulturellen Bereich definiert, während der Staat zum Schlüsselbereich institutioneller Prinzipien und die Wirtschaft zum Kerngebiet ökonomischer Marktprinzipien geworden ist. Die Zivilgesellschaft scheint der Bereich zu sein, der am stärksten von der Zunahme der Netzwerkform betroffen und gestärkt wird, was eine weitgehende Neugewichtung der Beziehungen zwischen Staat, Markt und zivilgesellschaftlichen Akteuren auf der ganzen Welt zur Folge hat. Wie später noch einmal dargelegt wird, ist die Fähigkeit einer Gesellschaft, diese Formen zu einem Gesamtsystem zusammenzufassen, entscheidend für ihre Entwicklung. Im Laufe der Zeit verlieren Gesellschaften, die in Stammes-(S)-Begriffen organisiert sind, an Gesellschaften, die auch institutionelle (I)-Systeme entwickeln, um S+I-Gesellschaften zu werden, normalerweise mit starken Staaten. Diese wiederum werden von Gesellschaften abgelöst, die Raum für die Entwicklung der Marktform (M) lassen und zu S+I+M-Gesellschaften werden. Jetzt, da die Form des Netzwerks (N) zunimmt und die Zivilgesellschaft umgestaltet wird, treten wir vielleicht in eine neue Phase der Evolution ein, in der T+I+M+N-Gesellschaften entstehen und die Führung übernehmen werden. Um im 21. Jahrhundert erfolgreich zu sein, muss eine Informationsgesellschaft alle vier Formen umfassen. Bevor wir darauf eingehen, sollten einige Definitionsfragen angesprochen werden. Die Begriffe - Stämme, Institutionen, Märkte, Netzwerke - sind zur Verdeutlichung da, und jeder von ihnen könnte einer langen Diskussion unterzogen werden. Der Begriff "Stamm" ist derzeit bei einigen Anthropologen (vgl. Fried 1967) nicht sehr beliebt, von denen einige vielleicht einen Begriff wie "Clan" bevorzugen. Aber egal, welcher Begriff bevorzugt wird, Verwandtschaft bleibt der Kern, der die Dynamik definiert. Der Begriff "Institution", wie er hier verwendet wird (in der Tradition Max Webers), bezieht sich auf abgegrenzte Organisationen, die im Wesentlichen auf Hierarchien beruhen und Führungspersönlichkeiten, Managementstrukturen und Verwaltungsbürokratien haben. Da die letztendliche Hauptmanifestation der "Staat" ist, könnten einige Leser es vorziehen, diesen Begriff zu ersetzen - aber meiner Meinung nach könnte dies die Wahrnehmung der Präsenz dieser Form in anderen Kontexten, insbesondere in religiösen Institutionen und Unternehmen, beeinträchtigen. In der Zwischenzeit behandelt eine andere Tradition des Wortgebrauchs (am Beispiel von Emile Durkheim und Talcott Parsons) fast jedes beliebige Aktivitäts- oder Strukturmuster - wie die Familie, der Markt, die Wahl, die Demokratie, sogar die Populärkultur - als Institution. Diese Verwendung trifft hier nicht zu (obwohl das Adjektiv "institutionalisiert" gelegentlich mit dieser Bedeutung im Hinterkopf verwendet wird, wie z.B. bei der Feststellung, dass eine Markt- oder Netzwerkform institutionalisiert wurde). Von den vier Begriffen kann "Markt" am wenigsten umstritten sein und die wenigsten Alternativen haben (z.B. "Austausch"). Manche Schriftsteller verwenden es fast ausschließlich mit "Kapitalismus" oder machen keinen großen Unterschied zwischen beiden. Das ist bei dieser Studie nicht der Fall. Hier wird der Kapitalismus als eine besondere Art von Beziehung betrachtet, die die Marktteilnehmer mit dem Staat und anderen Akteuren entwickeln; der Kapitalismus kann sogar daran mitwirken, die Entwicklung eines vollständigen Marktsystems zu verhindern. Der Begriff "Netzwerk" unterliegt losen und unterschiedlichen Interpretationen. Hier spricht man von Organisationsnetzwerken, vor allem dem "All-Channel"-Design, bei dem alle Mitglieder miteinander verbunden sind und miteinander kommunizieren können. Viele Sozialwissenschaftler verwenden den Begriff jedoch vor allem für soziale Netzwerke, in denen "Ketten-" und "Stern"-Muster häufiger vorkommen als All-Channel-Designs. Manche Theoretiker betrachten Netzwerke auch hinter allen Organisationsformen als zugrunde liegend und machen sie quasi zur "Mutter aller Formen" (vgl. Nohria & Eccles 1992). Wie in diesem Aufsatz verwendet, bezieht sich der Begriff jedoch auf eine Organisationsform, die sich von einer Hierarchie oder einem Markt unterscheidet (vgl. Powell 1990, Powell & Smith-Doerr 1994). Manchmal frage ich mich, ob ich nicht einen Begriff des Informationszeitalters wie "Cybernet" benutzen sollte, um meine Gewichtung zu verdeutlichen, aber das könnte den Aspekt überlagen, dass Organisationsnetzwerke bereits in frühen Perioden der Geschichte manchmal eine wichtige Rolle spielten. Kurz gesagt, ich bleibe vorerst bei den hier verwendeten Begriffen. Aber eine gute Alternative wäre möglicherweise: Clans, Hierarchien, Märkte und Cybernetze. ### Der Aufstieg der Stämme (und Clans) Die erste wichtige Form, um die Organisation von Gesellschaften zu definieren, ist der Stamm, der in der Jungsteinzeit vor etwa 5000 Jahren entstanden ist. Sein wichtigstes Ordnungsprinzip ist die Verwandtschaft - zunächst mit dem Blut, später auch mit der Bruderschaft. Sein Hauptziel (oder seine Funktion) ist es, ein Gefühl von sozialer Identität und Zugehörigkeit zu vermitteln und dadurch die Fähigkeit eines Volkes zu stärken, sich zu verbinden und zu überleben. Der Reifeprozess dieser Form definiert die Grundkultur einer Gesellschaft, einschließlich ihrer ethnischen, sprachlichen und zivilgesellschaftlichen Traditionen. Tatsächlich ist das, was auf dieser Organisationsebene geschieht, bis weit in die Neuzeit hinein eine Grundlage kultureller Züge geblieben; es bildet auch die Grundlage für den Nationalismus. In Übereinstimmung mit dem vorrangigen Prinzip der Verwandtschaft und den daraus abgeleiteten Verhaltensregeln ist der klassische Stamm egalitär - seine Mitglieder teilen gemeinschaftlich. Er ist segmentiert - jeder Teil sieht aus wie jeder andere Teil, und es gibt wenig oder gar keine Spezialisierung. Und es ist "acephal" oder kopflos - klassische Stämme haben keine starken, zentralen Häuptlinge. (Das "Stammesfürstentum" ist eine Übergangsphase zwischen Stämmen und frühen Staaten.) Eine Gesellschaft kann mit einer Stammesorganisation nicht weit (zumindest nicht im Hinblick auf die Entwicklung) vorankommen. Sie ist anfällig für Clanfehden und Ressourcenknappheit und tendiert dazu, sich zwischen "Fusion" (wo Clans sich vermählen und Außenseiter aufnehmen) und "Fission" (wo ein Teil sich absondert und seinen eigenen Weg geht) zu wechseln. Die Stammesform ist besonders begrenzt und ineffizient im Umgang mit Herrschafts- und Verwaltungsproblemen, wie z.B. bei dem Versuch, eine große landwirtschaftliche Aktivität zu betreiben oder einen eroberten Stamm zu regieren. Und das führt uns zur nächsten Form der Entwicklung: der hierarchischen Institution. Aber wenn ich über diese und spätere Formen diskutiere, sollte man sich vor Augen halten, dass Stammesmuster, die einst die Organisation von Gesellschaften beherrschten, eine wesentliche Grundlage für Identität und Solidarität bleiben, wenn Gesellschaften komplexer werden und Staat, Markt und andere Strukturen hinzufügen. Dies gilt für so unterschiedliche Gesellschaften wie China, wo ausgedehnte Familienstrukturen ständig alle möglichen politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Beziehungen beeinflussen, und die Vereinigten Staaten, wo die Betonung der Kernfamilie und der Einwanderung aus allen Teilen der Welt zu einem ungewöhnlich lockeren sozialen Gefüge geführt hat, in dem die gesellschaftliche "Verwandtschaft" oft mehr von einem Gefühl der Brüderlichkeit als von Blut abhängt, wie es in brüderlichen Vereinigungen zu sehen ist. Darüber hinaus bleibt die Stammesform, auch wenn sie letztendlich den Anschluss auf die allgemeine Regierungsführung einer Gesellschaft verliert, in ihrem Einfluss auf die späteren Formen bestehen. Dies zeigt sich z.B. in der Entwicklung aristokratischer Linien und Dynastien, "Alte-Herren-Netzwerken" und mafiösen Strukturen, die die herrschenden Institutionen mancher Gesellschaften in unterschiedlichen Epochen der Geschichte durchdringen. Es zeigt sich heute, wie die wirtschaftliche Liberalisierungspolitik einiger Regierungen (z.B. Mexiko, Syrien) teilweise manipuliert wird, um bestimmte politische oder ethnische Clans zu begünstigen. Die ethnischen Diasporen, die als "globale Stämme" bekannt sind, sind eine weitere moderne Manifestation des Fortbestehens dieser Form. Die Menschen in vielen Teilen der Welt bleiben in diesem "Stadium" der Entwicklung und haben die nachfolgend beschriebenen institutionellen oder anderen Organisationsformen nicht effektiv übernommen. Zu den schlimmsten ethnischen Konflikten gehören heute Völker, die ihre zentralen Institutionen verloren haben und zu wilden neo-tribalen Verhaltensweisen zurückgekehrt sind (z.B. auf dem Balkan), oder die um die Beibehaltung ihrer traditionellen Clansysteme kämpfen und sich gegen die Auferlegung externer Staats- und Marktstrukturen wehren (z.B. in Tschetschenien, Chiapas, Somalia). Einige Diktaturen, die auf einem starken Staat zu ruhen scheinen, gründen sich auf einen bestimmten vorherrschenden Clan (z.B. im Irak). In den Vereinigten Staaten und anderswo stellen urbane Banden wie die "Bloods" und die "Crips" im Großraum Los Angeles zum Teil eine Wiederkehr zu clanartigen, kämpferischen Bruderschaften von Jugendlichen dar, denen es an starken engen Familienbindungen mangelt und die keine Zukunft in Staat, Markt oder anderen Strukturen um sie herum sehen. Doch so sehr eine Gruppe von Menschen auch das Solidaritäts- und Gemeinschaftsgefühl genießen mag, das ein Stammesleben bieten kann, keine Gesellschaft und kein Teilbereich der Gesellschaft kann allein auf der Grundlage dieser Form in modernen, insbesondere nationalen Hinsicht große Fortschritte erzielen. Unter anderem kann sie nicht gut für materielle Verteidigung und Sicherheit sorgen oder Menschen gut organisieren für große wirtschaftliche und andere Unternehmungen. ### Der Aufstieg hierarchischer Institutionen Die zweite zu entwickelnde Form ist die hierarchische Institution. Wie zahlreiche Anthropologen geschrieben haben, verdrängt die Hierarchie mit ihrem Aufstieg die Verwandtschaft als Ordnungsprinzip. Des weiteren, so der Philosoph Jürgen Habermas, "wird die kollektive Identität nicht mehr in der Figur eines gemeinsamen Vorfahren, sondern in der eines gemeinsamen Herrschers vertreten". Höhepunkte des Aufstiegs der Form sind die antiken Reiche - insbesondere das Römische Reich - und später die absolutistischen Staaten des 16. Jahrhunderts, in denen die gesamte Gesellschaft ihren Platz unter einer von oben herrschenden Hierarchie einnehmen sollte. Das Hauptergebnis der Entwicklung dieser Form ist der Staat, der die Stammesprinzipien überwindet. Philosophen wie Thomas von Aquin und Jean Bodin und moderne Theoretiker wie Max Weber veranschaulichen die Auseinandersetzung mit der institutionellen Ordnung. Heute zeigen Regierungs- und Unternehmensorganigramme, wie ein institutionelles System aussieht. Wie in traditionellen Institutionen wie der Armee, der Monarchie und der katholischen Kirche zu sehen ist, ist das wesentliche Prinzip dieser Form die Hierarchie.

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