# Cancel Culture: Warum bekämpfen wir Linken uns so oft gegenseitig? DIE ZEIT Nr. 29/2020, 9. Juli 2020 / 8. Juli 2020, 16:48 Uhr / Editiert am 10. Juli 2020, 18:22 Uhr Von Marina Weisband In den sozialen Medien hat die ehemalige Piraten-Politikerin am meisten Angst vor Prügel aus dem eigenen Lager. Nur wer versteht, wie das kommt, kann es ändern. Wenn man jüdisch ist und anderen Juden und Jüdinnen begegnet, dann hat man direkt viel zu besprechen. Das ist das Schöne an so einer Identität: Man hat sich noch nie gesehen, aber kann gleich Sätze austauschen, die beginnen mit *»Hat deine Mutter auch immer …«* und jedes Mal in Lachen enden. So saß ich an einem Samstagmorgen im Café mit einer Journalistin, die ebenfalls jüdisch war und mit der ich nach einem anregenden Interview über Bildung und Integration auch viel lustigen Small Talk gemacht habe. Zum Schluss fragte sie mich nach meiner Einstellung zu einigen Linken. *»Jan Böhmermann?«* Ich: *»Cooler Typ. Hat extrem viel für Antifaschismus geleistet!«* *»Cooler Typ?«*, fragt sie nach: *»Obwohl er Antisemit ist?«* Ach ja. Da war was. Irgendwann 2018 brach [über Jan Böhmermann ein Shitstorm](https://www.zeit.de/2018/45/jan-boehmermann-tv-satire-antisemitische-witze-vorwurf-kritik) herein. Und Gott, was für ein Shitstorm! Er habe auf der Bühne Judenwitze gemacht. Er sei Antisemit. Niemand solle mehr mit ihm zusammenarbeiten! Oje. Ernste Anschuldigungen. Sollten wir uns genauer anschauen. > *»Das Internet: ein unerschöpflicher Quell der Urteile.«* Nachdem das Buch Gegen Judenhass von Oliver Polak erschienen war, sprachen alle von einer Szene, die darin beschrieben war: Nach einem Stand-up-Auftritt im Jahr 2010 wird Polak von drei Kollegen als Teil der Showeinlage von der Bühne gejagt, ein teilnehmender Fernsehmoderator desinfiziert sich danach die Hände. Besagter Fernsehmoderator, stellte sich nun, acht Jahre später, heraus, war Jan Böhmermann. Das Ganze fand statt bei einem Bühnenjubiläum von Serdar Somuncu. Der hat daraufhin einen ausführlichen Text verfasst, in dem er erklärt, dass die Nummer gemeinsam mit Polak besprochen und geprobt worden sei; dass der Sketch ironisch die Sinnlosigkeit von Diskriminierung von allem und jedem aufzeigen sollte. Es war also eine satirische Nummer, die Antisemitismus aufs Korn nehmen sollte. Aber kann man Antisemitismus aufs Korn nehmen, indem man seine Gesten einfach wiederholt? Das ist eine Frage, über die sich trefflich streiten lässt (was ich, in der Tat, bei diversen Gelegenheiten mit jüdischen Freunden und viel Wodka schon getan habe). Doch das ist gar nicht die Frage, die mich hier interessiert. Mich interessiert, wie wir von *»Jan Böhmermann hat einen Sketch aufgeführt, der antisemitisch sein könnte«* zu *»Jan Böhmermann ist Antisemit«* kommen. Immerhin ist Böhmermann sonst nicht durch antisemitische Ausfälle aufgefallen, sondern setzt sich im Gegenteil seit Jahren gegen Nazis ein. Das Internet: ein unerschöpflicher Quell der Urteile. Jeden Tag beobachte ich diese Eskalationsspirale. Warum legen wir dort jedes Wort unserer Mitmenschen auf die vernichtende Goldwaage? Es lässt mich verzweifeln, wie viel Energie Linke und Progressive aufwenden, um gegen andere Linke und Progressive zu schießen. Während Rechte mit ihren Shitstorms den politischen Gegner angehen, branden linke Shitstorms oft gegen Gleichgesinnte. Warum sind wir so streng – vor allem mit unseresgleichen? Zeit für ein ernstes Wort an die eigene Peergroup. Ich begann diesen Text lange vor den globalen [Black-Lives-Matter-Protesten](https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/demonstration-anti-rassismus-polizeigewalt-deutschland-protest-black-lives-matter) und möchte, dass er verstanden wird aus einer Position vollständiger Solidarität. Mir geht es darum, eine Spaltung zu verhindern. Vor ein paar Monaten etwa wurde die YouTuberin Natalie Wynn angegriffen. Und Achtung, jetzt wird’s kompliziert: Sie ist transsexuell, zerlegt rechtsradikale Logik und macht sehr gute Videos darüber. Dennoch ist sie heftiger Kritik gerade aus der Transgender-Szene ausgesetzt. Denn sie ließ den transsexuellen Pornodarsteller Buck Angel in einem ihrer Videos einen kurzen Text einlesen. Buck Angel wiederum ist umstritten, weil er sich – grob vereinfacht – als transsexuell und nicht als transgender bezeichnet und damit bestimmte Identitäten nicht anerkennt. Diese Debatte scheint nun ziemlich speziell für eine Subcommunity innerhalb einer Community. Führte aber dazu, dass nicht wenige versuchten, Natalie Wynn aus ebendieser Community auszuschließen. Menschen wurden aufgefordert, nicht mehr mit ihr zu arbeiten. Und ich frage mich: Sollte eine Person für etwas so absolut verurteilt werden, dass jeder, der mit ihr zusammenarbeitet, zur Persona non grata wird? Und jeder, der mit dieser zweiten Person zusammenarbeitet, auch? Wie weit geht die Kette? Es ist doch absurd, dass gerade marginalisierte Menschen so leicht bereit sind, sich zu entsolidarisieren – und das scheinbar über Haarspaltereien. Was Wynn und Böhmermann passiert ist, nennt man im englischen Sprachraum cancelling: eine Form von Boykott, der auf sozialen Plattformen all jene trifft, die etwas moralisch Fragwürdiges gemacht haben. Das Wort machte auf Twitter Karriere, wo überwiegend Frauen nach R. Kellys sexuellen Übergriffen auf Minderjährige twitterten: *»Cancel R. Kelly«*. Das Versprechen dieser neuen und scharfen Waffe: Wir können endlich auch Menschen bestrafen, die aufgrund ihres Vermögens und Einflusses unberührbar scheinen. An sich ist das erst mal etwas Gutes. Eine Handlung öffentlich zu kritisieren und damit eine Veränderung herbeizuführen bedeutet neue Macht für jene, die bisher ungerecht wenig Macht hatten. > *Alle Menschen machen Fehler* Der springende Punkt hier ist: *»eine Handlung kritisieren«*, nicht einen Menschen. Das gerät bei Online-Kritik leicht aus dem Blick. Eine Reihe von Prinzipien kennzeichnen diese Kritik in den sozialen Medien, gerade wenn sie emotional und wütend erfolgt. Natalie Wynn selbst hat einige davon identifiziert. Das erste Prinzip ist das der Verkürzung: Oft genug geht vor lauter Erregung der Kontext verloren. Aus *»Jan Böhmermann hat einen Sketch gemacht, bei dem er antisemitisches Verhalten dargestellt hat«* wird *»Jan Böhmermann hat sich antisemitisch gegenüber Oliver Polak verhalten«*. Während ich beim ersten Satz noch Fragen im Kopf habe, die mir bei der Einordnung helfen würden, bin ich beim zweiten Satz schon wütend. Antisemitisches Verhalten – das geht nun mal gar nicht. Das zweite Prinzip heißt Essenzialismus: Wir übertragen die Kritik an einer Handlung auf die handelnde Person, indem wir die kritisierte Handlung zu ihrer Eigenschaft erklären. So wird aus *»Jan Böhmermann hat sich antisemitisch verhalten«* die Aussage *»Jan Böhmermann ist Antisemit«*. Alle Menschen machen Fehler. Alle sagen manchmal rassistische oder antisemitische oder frauenfeindliche Sachen. Wir sind nun mal groß geworden in so einer Gesellschaft. Aber wenn Sie mir sagen: *»Marina, was du da gesagt hast, ist rassistisch!«*, kann ich es verstehen und um Entschuldigung bitten. Wenn Sie stattdessen sagen: *»Marina, du bist eine Rassistin«*, dann mache ich zu. Ich muss dieses Urteil von mir abwehren, um mein Selbstbild zu schützen. Alle Menschen tun das. Diskussion beendet. Mir ist schmerzlich bewusst, dass ich hier klinge wie viele Apologeten der Rechten, die ihren Rassismus verteidigen, indem sie behaupten, [das Wort *»Rassist«*](https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/rassismus-in-europa-) sei zu schnell bei der Hand. Es gibt natürlich einen Punkt, ab dem auch ich davon spreche, dass ein Mensch Rassist ist – nämlich wenn er sich wieder und wieder rassistisch äußert, obwohl er darauf hingewiesen wurde. Die Trennung von Mensch und Handlung kann eine überaus wertvolle Ressource im Werkzeugkoffer der Verständigung sein. Das dritte Prinzip des cancelling ist die Kontaktschuld. Das heißt, wenn jemand etwas Problematisches sagt, wird nicht nur die betreffende Person dafür öffentlich kritisiert. Sondern jeder, der mit ihr Kontakt hat, zusammenarbeitet, sie zitiert. So funktioniert Boykott. In der Praxis bedeutet es, dass ich mitverantwortlich bin für alles, was meine Arbeitskolleginnen, Freunde, Kontakte jemals twittern oder sagen. Ein ziemlich unmöglicher Zustand. Aus berechtigter Kritik wird regelrechtes Mobbing. Eine Hetzjagd, an der halb gelangweilte Zuschauer aus der Straßenbahn oder aus dem Büro heraus teilnehmen. Sie hinterlassen Empörung oder Häme und machen in ihrem Tag weiter. Die Betroffenen bleiben zurück. Oft beschämt, weil ja selbst schuld, und sozial isoliert. *»Der Shitstorm geht, der Schmutz, mit dem geworfen wird, bleibt«*, sagt eine, die in einem Tweet kritisiert hatte, dass Antisemitismusvorwürfe zu schnell im Raum stünden. > *»Die Trennung von Mensch und Handlung kann eine überaus wertvolle Ressource im Werkzeugkoffer der Verständigung sein.«* Es ist paradox. Die sozialen Medien waren doch das Versprechen eines neuen Diskurs-Gleichgewichts. Eine Art Mikrofon für die Ungehörten. Jenseits der gesellschaftlichen Position. Jenseits der Gatekeeper und der Massenmedien. Jetzt habe ich beim Twittern regelmäßig mehr Angst, Prügel aus meinen eigenen, eher linken Kreisen zu beziehen als von meinen politischen Gegnern. Inhaltlich oft berechtigte Kritik, jedoch selten so formuliert, dass man daraus wirklich etwas lernen kann. Als gäbe es gar nicht die Erwartung, dass ich das wollte. Twitter war ursprünglich eine Art mündliches Medium. Genutzt zum Absetzen einer Message – schnell, unüberlegt, zwischen Tür und Angel. Am Anfang waren Tweets wie *»gerade vom Sport zurück«* normal. Doch durch die stärkere politische Nutzung (zu der ich in Deutschland durchaus beigetragen habe) wurde Twitter zunehmend als schriftliches Medium verstanden: durchdacht, zitierfähig, offiziell. Allein dass das US-Nationalarchiv jetzt eigentlich alle Tweets von Donald Trump, die er sich auf dem Klo ausgedacht hat, als schriftliche Zeugnisse archivieren muss, zeigt das Ausmaß der Absurdität. > *»Früher musste man Dissens schlucken«* Ich möchte wissen, woher die Wut kommt, mit der wir online Menschen auseinandernehmen, die, wie Böhmermann, eigentlich auf unserer Seite stehen. Die, wie Wynn, selbst schutzbedürftig sind und eine wohlmeinende Community brauchen. Romane, Lebenserfahrung und auch Fachliteratur kommen überein: Die meiste Wut entwickeln wir, wenn wir verletzt sind. Und wenn es darum geht, wer wir sind. Es ist ein rechtes Narrativ, das sagt: *»Die Linken betreiben Identitätspolitik und schwingen dauernd die Moralkeule.«* Das ist nicht ganz richtig. Auch Rechte machen Identitätspolitik: für die Identität des weißen, heterosexuellen Mannes. Sein Selbstempfinden als *»normal«* soll geschützt werden. Progressive hingegen wenden ihre Aufmerksamkeit marginalisierten Identitäten zu. Und in deren Communitys ist erlittener Schmerz oft ein nachvollziehbarer Auslöser für Überreaktionen. Wer durch ein unbedachtes Wort diesen Schmerz berührt, provoziert eine stärkere Reaktion, als das Wort allein sie auf den ersten Blick rechtfertigt. Blinde Abwehr statt zugewandter Kritik. Die Person, die Schmerz bereitet, *»gehört nicht mehr zu unserer Gruppe«*. Der Rat *»Verkneif dir diese Reaktion«* ist natürlich zu einfach. Aber vielleicht hilft es der Verständigung, wenn sich beide Seiten über diese Reaktionsmuster bewusst werden. Wir haben ja in Wirklichkeit eine Reihe von Identitäten. Ich bin zum Beispiel Mensch, Untergruppe Mutter. Und ich bin eine Mutter, die einen partnerschaftlichen Erziehungsstil verfolgt. In einem wissenschaftlichen Artikel über *»Intergruppenprojektion«* las ich einmal, ich würde demnach intuitiv danach streben, dass meine Gruppe (Mütter mit partnerschaftlichem Erziehungsstil) möglichst typisch für das Label *»Mutter«* ist. Weil mich das aufwerten würde. Also neige ich dazu, Mütter mit einem anderen Erziehungsstil intuitiv abzuwerten. Oder mich von ihnen angegriffen zu fühlen, wenn sie mir Tipps geben. Auf diese Weise kommt es zwischen Gruppen, die eigentlich solidarisch miteinander sein sollten, zu Verletzung und Streit. Oft wird der Streit umso schlimmer, je näher sich die Gruppen eigentlich stehen. > *»Die Absolutheit, mit der wir im Moment Menschen, die wir kaum kennen, verurteilen, hat etwas Pubertäres.«* Die Gesellschaft zerfällt nun in immer feinere Einheiten. Traditionelle Autoritäten verlieren Einfluss und die Fähigkeit, Wahrheit zu generieren. *»Früher musste man Dissens schlucken. Jetzt kann man sich organisieren in einer Form, die den eigenen politischen Überzeugungen viel näher kommt«*, sagt der Theoretiker mit dem Künstlernamen tante: *»Wir müssen uns nicht mehr für eine von zehn gesellschaftlichen Identitäten entscheiden. Jeder von uns kann 18 Identitäten haben.«* Eigentlich eine tolle Sache. Wir können unserem eigenen Charakter treuer sein und unsere innere Wahrheit leben. Doch die Schärfung der eigenen Identität funktioniert vor allem durch Abgrenzung von anderen. So lange mussten Menschen sich in bestimmte Bilder fügen, dass sie sich jetzt auf beinah übertriebene Art ihre individuelle Nische schaffen. Die Absolutheit, mit der wir im Moment Menschen, die wir kaum kennen, verurteilen, hat etwas Pubertäres. Und es ist wahr: Durch all die neuen Kommunikationsmittel und -stile, durch die neue Vielfalt der Identitäten, stecken wir als Gesellschaft in einer Art kollektiven Coming-of-Age-Phase. Wir müssen uns an unsere neuen Möglichkeiten erst noch gewöhnen. Sie erkunden. Im Gegensatz zur echten Pubertät gibt es für uns aber keine *»Erwachsenen«*. Keine Role-Models, die schon herausgefunden haben, wie es gehen könnte. Wir müssen diesen Weg, miteinander sprechend, gemeinsam gehen. Was uns jetzt noch fehlt, sind vor allem zwei Werkzeuge: eine Fehlerkultur, in der wir einander auf problematisches Verhalten hinweisen können, ohne dass sich jemand als Mensch abgewertet fühlen muss. Und die urpolitische Fähigkeit, Bündnisse zu schließen. Dynamische, themenbezogene Bündnisse. Auch mit Leuten, die nicht in allem unserer Meinung sind. Nur so können wir wirklich etwas bewegen. Und uns gemeinsam auf den eigentlichen Gegner konzentrieren. --- https://www.zeit.de/2020/29/cancel-culture-linke-progressive-solidaritaet-verurteilung-outrage/