# Empörungsengagement und Desinformation – politische Kommunikation und die Dynamik digitaler Plattformen *Philippe Wampfler, Juli 2021* Direkter Link: https://hackmd.io/@phwampfler/merkur ## Einleitung »Weaponizing liberal anger into online engagement« – so [beschreibt der US-Politberater Dan Pfeiffer](https://messagebox.substack.com/p/how-libs-can-stop-owning-themselves) die Strategie des Senators Ted Cruz. Engagement, also digitale Aktivität, führt zu Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeit wiederum zu politischem Kapital. Erzeugt wird Engagement durch eine Strategie des Weaponizing, die man als Verfahren der Desinformation bezeichnen kann. Desinformation und Aufmerksamkeitserzeugung sind Mechanismen, die sich aus der Logik von werbefinanzierten Social-Media-Plattformen ergeben. Aufmerksamkeit für Werbung steigert ihren Wert, Engagement jeder Art dient dazu, Werbung genauer auszuspielen. Welche Informationen damit verbunden werden, ist dabei belanglos – digitale Plattformen agieren bewusst nicht redaktionell, sondern bewirtschaften *User-Generated-Content*. So entsteht ein idealer Nährboden für Desinformation. (Und auch ein [Narrativ, mit dem die Wirksamkeit von Social-Media-Plattformen behauptet wird](https://harpers.org/archive/2021/09/bad-news-selling-the-story-of-disinformation/).) Die zunehmende Nutzung digitaler Plattformen hat Aufmerksamkeitseffekte auf politische Kommunikation übertragen. Die entscheidende Einsicht: Aufmerksamkeit kennt keine Richtung. Wie politische Profile Engagement erzeugen, ist in der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie belanglos. Auf eine Formel gebracht: Politische Kommunikation funktioniert im digitalen Raum nicht durch Überzeugung, sondern durch Resonanz. Resonanz ist messbar: Kennzahlen übersteuern eine argumentative, informationsethisch reflektierte Kommunikation. Die folgenden Abschnitte zeigen, wie dieses Problem das [Habeck-Paradox](https://www.merkur-zeitschrift.de/2021/03/09/preisausschreiben-das-habeck-paradox/) erklären kann. ## Beispiel 1: Emcke-Rede Auf dem Parteitag der Grünen hielt die Publizistin Carolin Emcke im Juni 2021 eine kurze Rede. Eine [Passage daraus](https://www.spiegel.de/consent-a-?targetUrl=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fpolitik%2Fdeutschland%2Fshitstorm-nach-bericht-ueber-angeblichen-holocaust-vergleich-a-0dbf3dd5-2754-4e4a-8a27-2b56f81af55a&ref=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F) rief in der Folge heftige Reaktionen hervor: > »Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscher.« Empörung entstand primär auf Twitter. Der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak [schrieb dort](https://twitter.com/PaulZiemiak/status/1403692666647416832?s=20), es handle sich um »eine unglaubliche + geschichtsvergessene Entgleisung« und warf Emcke Antisemitismus vor. Auf dem Profil der Bild-Zeitung behauptete die Redaktion [im Teaser zu einem Artikel](https://twitter.com/BILD/status/1403453533760938004?s=20), Emcke habe Klimaforscher mit »verfolgten Juden« verglichen. Beide Reaktionen stehen exemplarisch für einen *Shitstorm*, dem sich die Publizistin und die Grünen ausgesetzt sahen: Er wurde angetrieben durch Konten von Politiker:innen und die Berichterstattung von Massenmedien. Die Argumente und Thesen von Emcke waren diesbezüglich belanglos: Ihre Formulierungen wurden im Rahmen der Desinformationskampagne [verfälscht und aus dem Zusammenhang gerissen](https://www.volksverpetzer.de/wahlkampf/emcke-bild-luege-juden/). Der Vorwurf des Antisemitismus verbreitete sich, er fand Reichweite – gerade auch durch den Versuch, die Zuspitzung und Verzerrung zu korrigieren, differenziert darauf hinzuweisen, was Emcke tatsächlich gesagt hatte. Paul Ziemiak führte zwar mit Emcke ein Gespräch, [entschuldigte sich](https://twitter.com/PaulZiemiak/status/1404885987273195528?s=20) und löschte seinen Tweet. Doch die Empörung und der emotionale Gehalt des Vorwurfs, sie hallten nach. Das macht diesen Fall symptomatisch für das hier diskutierte Problem. Die Rede Emckes enthielt ironischerweise [eine klare Darstellung der Mechanismen](https://www.spiegel.de/politik/deutschland/shitstorm-nach-bericht-ueber-angeblichen-holocaust-vergleich-a-0dbf3dd5-2754-4e4a-8a27-2b56f81af55a), denen sie sich in der Folge ausgesetzt sah, sie sprach von einem »empörte[n] Protest«, dessen Objekt »so austauschbar wie mutwillig sei«. Was Emcke prognostizierte, trat gerade bei ihrer Rede ein. An die Empörung und Manipulation anschlussfähig waren Kommentare, die primär eine politische Abgrenzung und Virtue Signaling erlaubten. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rede Emckes hätte vorausgesetzt, dass Menschen bereit wären, sich einzulesen und darüber nachzudenken, was Emcke meint. Die Verknappung auf die Codes: *Grüne – Intellektuelle – Antisemitismus* reichte hingegen aus, um Engagement weiteren Aufwand zu erzeugen. Die Begleitung der Eskalation durch seriöse Publikationen ([Spiegel](https://www.spiegel.de/politik/deutschland/shitstorm-nach-bericht-ueber-angeblichen-holocaust-vergleich-a-0dbf3dd5-2754-4e4a-8a27-2b56f81af55a), [Süddeutsche Zeitung](https://www.spiegel.de/politik/deutschland/shitstorm-nach-bericht-ueber-angeblichen-holocaust-vergleich-a-0dbf3dd5-2754-4e4a-8a27-2b56f81af55a)) verhilft den Profilen, die sich am Shitstorm beteiligt haben, zu mehr Reichweite – und verschafft der perfiden Unterstellung, Emcke habe antisemitische Aussagen getätigt, eine weitere Bühne. Resonanz ersetzt Relevanz. Der berufsethisch bewusste Journalismus steht so vor einem *Catch-22*: Entweder ignorieren, worüber alle (zumindest auf Twitter) sprechen – oder denen eine Bühne geben, welche eine deliberative Auseinandersetzung verhindern. ## Aufmerksamkeit als Wertersatz »Dass es geknallt hat – darüber braucht man sich nicht mehr zu verständigen«, schreibt Luhmann in *Einfache Sozialsysteme* (1972). Im Aufsatz verhandelt er das Verhältnis von diffuser, schneller Wahrnehmung und thematisch orientierten, reflektierten Sprachhandlungen. Politische Kampagnen orientieren sich in ihrer Arbeit nicht an normativen Vorstellungen argumentativer Überzeugung. Sie stützen sich auf psychologische Einsichten, die Wahrnehmungsfragen priorisieren: Wie wirken Kandidierende, welche Assoziationen lösen Slogans aus? Dieses Know-how haben Kampagnen lange versteckt: Sie präsentieren politische Bemühungen im Wahlkampf mit einem idealistischen Anspruch, nämlich so, als handle es sich primär um sprachlich-thematische Kommunikation. In dieser Ausgangssituation greifen digitale Plattformen auf politische Interaktionen zu. Michael Seemann spricht von einer [»Graphnahme«](https://www.philomag.de/artikel/michael-seemann-plattformen-machen-kapitalisten-zur-austauschbaren-infrastruktur): Verbindungen auf einer Plattform bilden Verbindungen ab, die außerhalb der Plattform bereits existieren. Menschen, die an politischer Kommunikation teilnehmen, nehmen das umgekehrt wahr: Sie erleben sich in der Wahl von Kanälen als aktiv (vgl. [diese TikTok-Analyse](https://www.rosalux.de/fileadmin/images/publikationen/Studien/Studien_7-21_Schluss_mit_lustig_TikTok_web__1_.pdf)), werden aber durch die Ökonomie von Plattformen vereinnahmt. Politische Kommunikation wird auf den Plattformen zu einem Teil ihrer Entwicklung, für die Wachstum und Engagement entscheidend sind. Sprachlich-thematische Kommunikation ist langsam und aufwendig, sie bietet kaum Ansatzpunkte für Plattform-Wachstum. Deshalb verstärken soziale Netzwerke emotionale Wahrnehmungseffekte. Dafür existierte für kurze Zeit ein politisches Bewusstsein: Kampagnen waren bemüht, Shitstorms zu vermeiden, sie hielten an der Vorstellung von politischer Kommunikation als inhaltlicher Verständigung fest. Die Trump-Bewegung führte zu einem Paradigmenwechsel: »Dass es geknallt hat – darüber braucht man sich nicht mehr zu verständigen«, wurde zum Motto politischer Kommunikation. Wer sich in Shitstorms bewegt und Empörung generiert, erhält auf digitalen Plattformen maximale Reichweite und Sichtbarkeit. Trumpismus lässt es nicht nur knallen, er setzt auch Desinformation strategisch ein. Ihr primärer Effekt besteht darin, argumentative Auseinandersetzungen zu *derailen*, die Ebene von politischen Entscheidungen hin zu Aufregung zu wechseln. Verfälschungen lösen gerade auch im Widerspruch Resonanz aus; die Bereitschaft, psychologische Überzeugungseffekte nicht mit Werten oder Argumenten in Deckung zu bringen, kann ein Zielpublikum stark an eine politische Bewegung binden. Wenn es knallt, werden Menschen politisch aktiv. ## Influencer-Marketing in der Politik *Creators*, wie Influencer:innen sich seit einiger Zeit nennen, haben diese Einsicht zu einer Grundregel verdichtet: »Baue eine Beziehung zu einem möglichst großen Publikum auf – du wirst sie monetarisieren können!« Diese Abfolge entspricht auf einer individuellen Ebene derjenigen von Plattformen, wie sie [Seemann beschreibt](https://www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=3&titel_nr=9075): Sie expandieren und kümmern sich erst danach um die Extraktion von Gewinn. Influencer:innen bauen ein *Following* aus Profilen auf – und verkaufen später die damit verbundene Reichweite und Macht. Empörungsengagement und Desinformation lassen sich in ihrer Wirkung so beschrieben: Wer in Bezug auf bestimmte politische Positionen immer wieder emotional zugespitzte, einfache Vorlagen zur Interaktion liefern kann, wird ein Publikum an sich binden. Influencer-Marketing besteht auch aus bewussten Fehlern und Tabubrüchen, damit Menschen ablehnend und kritisch darauf reagieren. Resonanz kennt keine Werte und keine Inhalte, schafft aber vielfältige Verbindungen, die Plattformen erkennen und algorithmisch verarbeiten. Das ist der Grund, weshalb sich die Methoden der Influencer:innen verbreiten, gerade auch in die politische Kommunikation. ## Beispiel 2: PewDiePie und Ken Jebsen PewDiePie, bürgerlich Felix Kjellberg, hat sich in den 2010er-Jahren zum bekanntesten und reichweitenstärksten Youtuber emporgearbeitet, er ist ein [prototypischer Influencer](https://www.nytimes.com/interactive/2019/10/09/magazine/PewDiePie-interview.html). Nachdem Kjellberg primär Computerspiel-Videos gemacht hat, begann er 2015 Grenzen auszuloten. Insbesondere antisemitische Memes tauchten immer wieder in seinen Videos auf. Rechtsextreme politische Parteien begannen sich für PewDiePie einzusetzen, der Attentäter von Christchurch warb in der Aufnahme seiner Terrorattacke 2019 für sein Profil. Kjellberg [versuchte sich früh von politischer Ideologie zu distanzieren](https://pewdie.tumblr.com/post/157160889655/just-to-clear-some-things-up). Die Frage, welche politische Haltung hinter dem Kanal steht, bleibt aber bis heute offen. Das ist symptomatisch für politische Kommunikation unter den Bedingungen der Digitalität: Reichweite führt zu politischer Macht, die nicht an Werte gebunden ist. Was die Menschen hinter der Reichweite wirklich glauben, wird zu einer offenen Frage. Anders als Kjellberg hat sich Ken Jebsen kaum gegen politische Vereinnahmung gewehrt. Der ehemalige Journalist hat wie PewDiePie immer wieder mit antisemitischen Provokationen Grenzen übertreten, die zu Aufmerksamkeit für ihn und seine Formate geführt hat. Jebsen war vermutlich primär daran gelegen, möglichst viel Reichweite und medialen Erfolg aufzubauen. Mittlerweile ist aber Jebsen Teil einer radikalisierten politischen Querfront, die Verschwörungstheorien und russische Propaganda teilt. In einer [Podcast-Folge](https://www.ardaudiothek.de/sendung/cui-bono-wtf-happened-to-ken-jebsen/89991466) formulieren Fachpersonen die These, Jebsen sei ein »nützlicher Idiot«: Er arbeite für eine russische Desinformationskampagne, ohne sich dessen bewusst zu sein. Influencer:innen zeigen, dass Reichweite eine Bedingung für politische Kommunikation in digitalen Kontexten ist. Diese Reichweite wird politisch instrumentalisiert, selbst wenn Verantwortliche das gar nicht wollen. Daneben haben Influencer:innen aber noch eine andere Bedeutung: Einige von ihnen agieren als *Edgelords*, welche die Grenzen des Sagbaren überschreiten. Antisemitismus ist eine dieser Grenzen. Edgelords sind wichtig, um das Kommunikationsklima zu verschieben. Gerade im politischen System tendieren Aktivist:innen dazu, zunächst extreme Forderungen vorzubringen, welche die Grenzen des politisch Denkbaren verletzen. Seriöse Parteien oder Gruppierungen können sich dann gleichzeitig von diesen Forderungen distanzieren und eigene, weniger extreme nachlegen, die zuvor politisch nicht verhandelbar waren. Edgelord-Influencer:innen verschieben das *Overton-Fenster*: Egal ob sie das als Empörungsbewirtschaftung oder im Dienste politischer Interessen machen – sie sind damit »nützliche Idiot:innen« für Bewegungen, deren Interessen sich am Rande des Meinungsklimas befinden. ## Methoden politischer Desinformation Das politische Feuilleton hat im Zuge der digitalen Transformation die Fähigkeit verloren, politische Kommunikation differenziert einzuordnen. Zwei Effekte haben das bewirkt: Einerseits hat das zuvor beschriebene Empörungsengagement politische Kommunikation verändert, andererseits wurde der Journalismus durch die digitale Transformation selbst verändert. Journalist:innen sind persönlich in öffentliche Debatten im Netz involviert. Ihre Beiträge werden primär digital verbreitet, Metriken spielen eine wichtige Rolle: Wie oft werden sie geklickt, geteilt, kommentiert? Resonanz steht in einer Konkurrenz zum Ideal des politischen Feuilletons: Differenzierte Einordnung ist zwar wichtig, Reichweite aber ebenfalls. Für Journalist:innen entsteht ein Dilemma: Ziehen sie fundierte Auseinandersetzungen oder Engagement vor? Diese Konstellation erlaubte es Bewegungen, wie der Alt-Right, das politische Feuilleton zu hacken. Begriffe wie *Political Correctness*, *Identitätspolitik*, *Cancel Culture*, *Wokeness* oder *Critical Race Theory* suggerieren, sie stünden für theoretisch fundierte Analysen. Zudem lassen sie sich direkt auf hochkochende Empörungswellen beziehen und ermöglichen dem Feuilleton so, an der Reichweite von Plattformeffekten zu partizipieren. An dieses Aufmerksamkeitshacking schließt eine Reihe von Verfahren an, die als Desinformation bezeichnet werden können. Im Kern geht es darum, Information (oder die Möglichkeit, sich zu informieren) durch etwas zu ersetzen, worauf sich Aufmerksamkeit fokussieren kann. Information würde bei der Emcke-Rede bedeuten, vorgebrachte Argumente wahrzunehmen und eine kritische Auseinandersetzung damit zu ermöglichen. Die Desinformationskampagne setzt dagegen Reduktion und Eskalation ein: Wenige Sätze aus der Rede werden mit einem maximalen Vorwurf (Antisemitismus) verbunden. Eskalation bindet Aufmerksamkeit. Desinformation ist ein Oberbegriff für eine Reihe von Verfahren, die medial und psychologisch komplex strukturiert sind (ein konkretes Beispiel dafür ist *[False Balancing](https://mihajlovicfreiburg.com/2021/07/05/false-balance-und-social-media/)*). Logisch ist das Problem nicht auf digitale Plattformen zu reduzieren. Gleichwohl besteht eine enge Verbindung, für die es drei Ursachen gibt: In der Ökonomie der Plattformen spielt es keine Rolle, worauf sich Aufmerksamkeit bezieht. Desinformation ist darauf abgestimmt, sie präsentiert Zusammenhänge so, dass sie leicht wahrgenommen werden. Zweitens ermöglichen gemeinschaftliche und algorithmische Verfahren eine Vielfalt von Desinformation: Mit digitalen Plattformen lässt sich testen, wie Menschen auf Informationsangebote reagieren – Desinformation unterläuft also kontinuierliche Evolutionsprozesse von Variabilität und Selektion, sie wird memefiziert (Memes sind Informationen, die Evolutionsprozesse durchlaufen haben). Drittens sind digitale Plattformen für Massenmedien Recherchekontext und primärer Verbreitungskanal: Desinformation erzeugt so massenmedial verstärkt Rückkopplungseffekte. Desinformation ist zu einem [politischen Werkzeug geworden](https://www.belltower.news/bundestagswahl-2021-wie-einflussreich-sind-desinformationen-von-rt-de-121111/). Besonders antidemokratische Bewegungen setzen sie ein, um das Vertrauen in Behörden, Institutionen und demokratische Prozesse zu erschüttern. Thomas Rid zeigt in seiner Studie Active Measures, dass digitale Plattformen Kampagnen billiger, schneller, passgenauer gemacht haben. Viele Aktivitäten wirken, als wären es spontane Reaktionen auf Vorfälle, obwohl dahinter [strategische politische Überlegungen](https://www.heinz.cmu.edu/media/2018/October/troll-farms-and-fake-news-social-media-weaponization) stehen. ## Das Habeck-Paradox Die ehemalige Facebook-Angestellte Sophie Zhang hat ein [exemplarisches Phänomen beschrieben](https://restofworld.org/2021/sophie-zhang-facebook-autolikers/): User:innen aus dem globalen Süden verbinden ihre Facebook-Profile mit Programmen, die ihnen zu mehr Resonanz verhelfen. Sie verbreiten damit nicht Desinformation, vielmehr möchten sie ihre Posts auf Facebook mehr Kontakten anzeigen. Um die Sichtbarkeit zu steigern, verwenden sie sogenannte *Autoliker*. Gewähren sie diesen Skripten Zugang zu ihren Accounts, werden ihre Profile genutzt, um Engagement auf anderen Beiträgen zu faken. Zhangs Fazit: Der Wunsch nach mehr Reichweite einzelner User:innen führt zu einem generellen Vertrauensverlust und Kosten, die andere tragen müssen. Dieser Mechanismus lässt sich bei politischer Kommunikation ganz ähnlich beobachten. Sobald einzelne Akteur:innen Resonanz über Relevanz und Empörung über Argumente stellen, funktioniert das wie ein Autoliker-Programm: Empörungsengagement führt zu Sichtbarkeit – kurzfristig auf Kosten anderer, weil Diskussionen dadurch erschwert werden. Mittelfristig beschädigt das den politischen Diskurs insgesamt, da die Unterscheidung von sachlich-argumentativen Beiträgen und Empörungsprovokation verschwimmt. Der Soziologe Urs Stäheli spricht in diesem Zusammenhang von einer »Autonomisierung des Netzwerkens« ([S. 32](https://www.suhrkamp.de/buch/urs-staeheli-soziologie-der-entnetzung-t-9783518299371)): Die Eigendynamik von Netzwerken verdrängt die Ziele, welche Menschen mit dem Netzwerken verfolgen. Werden Netzwerke für politische Zwecke benutzt, dann verschiebt sich also der Fokus weg von politischen Fragen und hin zu Netzwerkeffekten. Das ist es, was hier mit Resonanz oder Engagement bezeichnet wird, das ist der Autoliker-Effekt, der Nährboden für Desinformation. Damit ist das *Habeck-Paradox* beschrieben, das dieser Essay klären soll. Habeck steht stellvertretend für Politiker:innen, die sich an einem demokratischen Ideal politischer Kommunikation orientieren, sie gleichzeitig aber in einer von Plattformökonomie geprägten Medienwelt betreiben. Solange das politische Feuilleton seine Aufgabe wahrnehmen konnte, konnten Akteur:innen mit weitgehend argumentativer politischer Kommunikation ein Publikum erreichen. Aufmerksamkeitsökonomie hat in einer Kultur der Digitalität diese Möglichkeit zersetzt. Das Paradox bezeichnet ein Dilemma: Politiker:innen müssen sich zwischen demokratischen Werten und Resonanz, zwischen informationsethischen Idealen und Performanz im Kontext von Desinformation, zwischen Überzeugungen und politischem Kapital entscheiden. In dieser Formulierung des Problems erscheint es trivial – und gar nicht neu. Die folgenden Fragen scheinen im Problem der digitalen Plattformen lediglich klarer und verstärkt auf: Welche politischen Kompromisse sind zulässig, um eine Überzeugung umsetzen zu können? Welche Rhetorik ist angemessen, um Ideen vorzutragen? Welche Beziehungen müssen und dürfen wie gepflegt werden, um politische Wirkung zu entfalten? Wo hören Allianzen auf und wo beginnt Vereinnahmung? Wirtschaftliche und systemische Zusammenhänge haben sich schon immer auf politische Kommunikation ausgewirkt. Digitalität verstärkt über Plattformen diesen Einfluss. Der Verzicht der republikanischen Partei auf ein Wahlprogramm für die Präsidentschaftswahlen 2020 ist ein Reflex davon, dass ein kohärenter Text kaum noch Bedeutung für politischen Erfolg hat – auch seriöse politische Parteien werden in Zukunft ähnliche Prioritäten setzen. Von Memes getriebene, in Netzwerken kontextualisierte Kommunikation bestimmt die Aushandlung politischer Fragen. Das vorliegende Problem kann mit vier Fragen konkretisiert werden: 1. Wie kann sich politische Kommunikation von den Versuchungen der Empörungsresonanz auf digitalen Plattformen lösen? 1. Wie können politische Akteur:innen auf Methoden des Influencer-Marketings und der Desinformation verzichten? Welche Ideale politischer Kommunikation brauchen sie dazu? 1. Wie geht eine aufgeklärte Gesellschaft mit politischen Edgelords um, also Profilen, die bereit sind, jede Grenze zu überschreiten? 1. Wie sieht eine mediale Begleitung des politischen Diskurses aus, die nicht anfällig auf aufmerksamkeitsökonomische Effekte ist? ## Komplexität und Landsgemeinden – weshalb sich das Problem nicht leicht lösen lässt Stäheli schreibt im Epilog zu seiner *Soziologie der Entnetzung*, es brauche »affektive Bilder des Entnetzens«, um strategisch an den Orten, wo »Konnektivitätsimperative« besonders stark wirkten, Verbindungen aufzulösen. Entnetzung ist einer der Ansätze, um politische Empörungsmechanismen aufzulösen – sobald politische Aussagen weniger stark mit großen Netzwerken und ihrer Dynamik auf digitalen Plattformen verbunden sind, lösen sich einige der aufgeworfenen Probleme auf. Die Landsgemeinde bezeichnet ein solches affektives Bild für politische Kommunikation. In Schweizer Kantonen oder Tälern wird damit eine Versammlung der Stimmberechtigten bezeichnet, die Wahlen abhalten und politische Entscheide fällen. Landsgemeinden sind lokal verankert, die Präsenz vor Ort führt zu überschaubaren Verfahren der Überzeugung und der politischen Kommunikation. Als performative Partizipation zeigen sie Interessierten und Betroffenen, welche Wege es für sie gibt, sich einzubringen und gehört zu werden. Auch wenn Landsgemeinden nicht gegen Desinformation, Influencer:innen, oder problematische Einflüsse auf das Meinungsklima gefeit sind, könnten sie eine Leitvorstellung für politische Kommunikation im Kontext der Digitalität darstellen. Man stelle sich Foren vor, auf denen verifizierte Konten politische Fragen lokal verhandeln – nicht beeinflusst von Algorithmen, die Eskalationen priorisieren. Diese Leitvorstellung ist aber eine Scheinlösung, sie adressiert nur einen Teil des Problems. Die Komplexität der hier verhandelten Fragestellung führt dazu, dass ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt notwendig ist. Schon nur deshalb, weil die problematischen Dynamiken von digitalen Plattformen sich fast automatisch auf alle neuen Kommunikationsformen übertragen. Entscheidender ist aber, dass Gefahren für die Demokratie nur teilweise auf politische Kommunikation zurückzuführen sind. [Lobbyismus, Entwertung von Expertise und wissenschaftlicher Forschung, eingeschränkte und fehlende Partizipation oder mangelhafte Entwicklung demokratischer Institutionen und Prozesse](https://www.philosophie.fb05.uni-mainz.de/files/2021/07/Metzinger_Interview_ForschungLehre_7_2021.pdf) – diese Probleme sind alle mit Kommunikation verbunden, lassen sich aber nicht darauf reduzieren. Digitale Landsgemeinden können eine digitale Organisation politischer Kommunikation anbieten, die nicht von Plattformökonomie abhängt. Damit sie aber funktionieren, bräuchte es enorme Investitionen in Moderation, Communitymanagement, Evolution von Partizipation, permanente Reflexion und Evolution der Regeln aus allen Perspektiven. Zusätzlich müssen gewinnorientierte Plattformen in Bezug auf politische Kommunikation einer strikten Regulierung unterworfen werden. Kurz: Politische Kommunikation lässt sich nur dann von Desinformation und Empörungsbewirtschaftung befreien, wenn der politische und gesellschaftliche Wille vorhanden ist, demokratische Prozesse konstant und inklusiv im Kontext der medialen Gegebenheiten zu entwickeln. Einfacher lässt sich eine Lösung nicht formulieren. ## Das Habeck-Paradox als Freeriding-Problem Desinformation destabilisiert Demokratien doppelt: Erstens greift sie ihre Funktionsweise an. Bürger:innen können sich nicht mehr angemessen über politisch relevante Vorgänge informieren; die Kommunikation von Institutionen und Behörden wird durch Desinformation verfälscht; Medienschaffende kämpfen bei Recherche und Verbreitung ihrer Inhalte mit orchestrierten Bemühungen, ihre Arbeit zu erschweren oder verunmöglichen. Das zeigt jeder Terroranschlag: Gerüchte, Deutungen und Warnungen fluten digitale Plattformen. Wer sich ein sachliches Bild machen will, muss viel Energie investieren – genauso wie die Polizei, die sicherheitsrelevante Informationen verbreiten will. Das führt zur zweiten Destabilisierungsgefahr: Demokratien geraten in Versuchung, ebenfalls mit Desinformation zu arbeiten, mit Empörungsengagement Wirkung zu erzielen. Das sind die beiden Dimensionen des Habeck-Paradoxes: Der Verzicht auf digitale Kommunikation ist einerseits der Wunsch, nicht ständig gegen Desinformation und Empörungseskalation kämpfen zu müssen. Andererseits signalisiert er die Einsicht, dass seriöse Politiker:innen der Versuchung widerstehen müssen, solche Methoden selber einzusetzen. Wunsch und Einsicht reichen aber nicht, sie schaffen keine Grundlage für wirksame politische Kommunikation. Deshalb werden Politiker:innen auch immer wieder rückfällig: Ab und zu wie Influencer:innen zu agieren, scheint keinen direkten Schaden zu verursachen. Das ist klassisches Freeriding. Ein einzelner Stunt, eine Zuspitzung, eine persönliche Anspielung – das allein verursacht nicht das große Problem. In einem Kommunikationsklima, das von Plattformökonomie und Desinformationskampagnen geprägt ist, trägt jede einzelne Aktion dazu bei, dass Demokratien erodieren. Genauso wie der Klimawandel einzelnen Konsument:innen nicht angelastet werden kann, kann diese massive Bedrohung der Demokratie nicht einzelnen Politiker:innen zum Vorwurf gemacht werden. Die Bedingungen müssen sich ändern: Politiker:innen sollen ihre Kommunikation nicht an Plattformen ausrichten, die ihnen versprechen, ein Publikum zu erreichen. Sie sollten Partizipation und Demokratie gemeinsam mit Interessierten so entwickeln, dass sie stark und autark werden. Möglicherweise auf digitalen Landsgemeinden.