# Grenzen beim Sex ## "Ich wollte den Moment nicht kaputt machen" Lou Zucker, 6. Juli 2021 Ich bin 17 und besuche einen Typen in einer anderen Stadt, in den ich schon länger verknallt bin. Wir übernachten gemeinsam bei Freunden von ihm, teilen uns eine Decke. Es ist kalt. Ich möchte ihm nah sein, aber seine Hände zwischen meinen Beinen möchte ich nicht. Ich schiebe sie weg. Sie kommen wieder. So geht es die ganze Nacht. Ich tue kein Auge zu, sage aber nichts. Ich möchte seinen Kumpel nicht wecken, der neben uns schläft. Vor allem aber habe ich Angst, meinen Crush vor den Kopf zu stoßen, dass er mich nicht mehr treffen will, wenn ich ihn zu brüsk zurückweise. Ich bin nie mit Gewalt zu Sex gezwungen worden. Und doch habe ich mich unzählige Male in sexuellen Situationen wiedergefunden, die ich so nicht wollte. Ich habe mich überreden und Dinge mit mir geschehen lassen, mit denen ich mich unwohl fühlte – und das sowohl mit Männern als auch mit Frauen. Einmal habe ich mich beim Sex sogar ernsthaft bedroht gefühlt. Trotzdem bin ich geblieben. Warum fällt es mir so schwer, nein zu sagen? Vielen jungen Menschen, insbesondere Frauen, geht es so wie mir. Das belegen zahlreiche Studien. Eine Schweizer Umfrage unter mehr als 7.000 jungen Erwachsenen kam 2017 zu dem Ergebnis, dass 53 Prozent der befragten Frauen schon sexuelle Kontakte hatten, ohne diese gewünscht zu haben. Unter den Männern waren es 23 Prozent. Jede dritte junge Frau hat einer schwedischen Studie zufolge Schmerzen bei vaginalem Penetrationssex – und fast die Hälfte von ihnen hält den Schmerz aus und macht einfach weiter. Die häufigsten Gründe, die die Schwedinnen dafür nannten, waren, dass sie ihren Partner nicht verletzen oder den Moment nicht verderben wollten. Diese jungen Frauen sahen die Lust ihrer männlichen Partner als wichtiger an – und zwar nicht nur wichtiger als ihre eigene Lust, sondern sogar als ihren eigenen Schmerz. In der Schweizer Studie gaben sowohl Männer als auch Frauen an, sie wollten ihren Partner oder ihre Partnerin glücklich machen, dafür sorgen, dass in der Beziehung alles gut laufe. Ebenfalls ein häufiger Grund für ungewollten Sex – und der einzige, den die männlichen Teilnehmer etwas häufiger nannten als die Frauen – war, dass die andere Person Sex erwartet hätte. Das entspricht den Beobachtungen einer Studie der New York University. Die von den US-amerikanischen Wissenschaftler*innen befragten Männer hatten vor allem deshalb ungewollten Sex, weil sie den sozialen Druck spürten, als Männer immer Sex zu wollen. Sie hatten Angst, ihr Gesicht zu verlieren oder nicht männlich genug zu erscheinen, wenn sie Nein sagten. Auch ich hatte jahrelang Schmerzen beim Penetrationssex und habe sie einfach ausgehalten. Zum Beispiel mit einer Affäre von mir. Wir hatten uns auf einer Party kennengelernt, uns geküsst, einige Wochen später ging ich zum ersten Mal zu ihm nach Hause. Wir fielen übereinander her, knutschten wild auf dem Sofa. All das fand ich sehr heiß und aufregend. Dann landeten wir im Bett und hatten Penetrationssex. Es tat weh und bereitete mir überhaupt keine Lust. Doch ich redete mir ein: "Gleich wird es bestimmt besser" oder: "Gleich ist es eh vorbei". Ich sagte nichts. Ich wollte den Moment nicht kaputt machen, der eben doch noch so schön gewesen war, und hatte wieder einmal Angst, dass er mich nicht mehr würde treffen wollen. ## Sexuelle Skripte Lange hatte ich das Gefühl, dass es für Sex eine Art vorgefertigtes Drehbuch gibt, das wir alle auswendig gelernt haben und dann immer wieder aufführen. Erst knutschen wir, vielleicht haben wir ein bisschen Oralsex und, wenn die andere Person ein Cis-Mann ist, endet das Ganze mit vaginaler Penetration. Sonst war es kein "richtiger" Sex. Und wenn man schon geflirtet, geknutscht und zusammen nach Hause gegangen ist, dann hat man auch richtigen Sex zu haben. Von "sexuellen Skripten" spricht Charlotta Holmström, Professorin am Centre for Sexology and Sexuality Studies an der Universität Malmö. "Es gibt Normen, die uns in sexuellen Situationen leiten", sagt sie. "Diese Normen können hilfreich sein, um Situationen vorhersehbarer zu machen. Sie können aber auch zum Problem werden, wenn die andere Person eine sexuelle Interaktion erwartet und man selbst merkt, man möchte das doch nicht mehr." Sexueller Konsens ist in Schweden ein viel diskutiertes Thema, seit das Land im Jahr 2018 sein Sexualstrafrecht reformierte. In Deutschland gilt eine sexuelle Handlung als strafbar, wenn sie "gegen den erkennbaren Willen" des Opfers geschieht. Das Gesetz richtet sich hier also nach dem Grundsatz "Nein heißt Nein". In Schweden dagegen gilt: "Nur Ja heißt Ja". Damit sind bereits sexuelle Handlungen ohne die ausdrückliche verbale oder non-verbale Zustimmung des Gegenübers strafbar. Holmström ist aber überzeugt, dass Sex wollen und Sex zustimmen nicht immer das Gleiche ist: "Was sagt mein Körper? Was wird in der Situation von mir erwartet? Was wird von meinem Geschlecht erwartet? Das alles fließt in die Entscheidung mit ein, ob ich zustimme." In ihrer Studie konnte die Forscherin zeigen, wie schwer es jungen Erwachsenen oft fällt, die "sexuellen Skripte" zu durchbrechen. Sie ließ die Teilnehmenden in Fokusgruppen über verschiedene Szenarien diskutieren, beispielsweise: Zwei Menschen treffen sich in einer Bar, küssen sich und gehen zusammen nach Hause. Alle waren sich einig, dass man das Recht haben sollte, sich jeder Zeit gegen Sex zu entscheiden. Gleichzeitig waren sich auch alle bewusst, dass in einer solchen Situation Sex erwartet wird. In den Diskussionen kam heraus, dass es den Teilnehmenden schwerfallen würde, diese Erwartung zu durchbrechen. Sie hätten Angst, dass schlecht über sie geredet werden würde, sie würden Wut oder sogar Gewalt als Reaktion fürchteten, oder einfach eine unangenehme Situation vermeiden wollen. ## Die Bedeutung von Normen Sexuelle Skripte hätten viel mit Gendernormen zu tun, erklärt Professorin Holmström: "Von Männern wird erwartet, immer Sex zu wollen. Als Frau solltest du nicht zu schnell ja sagen, aber auch nicht gar keinen Sex wollen. Entweder du wirst als Schlampe gesehen oder du bist langweilig." Eine besonders mächtige gesellschaftliche Erwartung sei außerdem, in einer Beziehung Sex zu haben. Wer das nicht wolle, dem werde vielleicht vorgehalten, die Beziehung nicht zu wollen. Als ich den "schönen Moment" mit meiner Affäre nicht zerstören wollte, machte ich mir nicht klar, dass der Moment für mich ja längst nicht mehr schön war. Dass ich meine eigene Lust so wenig wichtig nahm, hat mit Sicherheit auch etwas damit zu tun, dass ich als Frau sozialisiert wurde. Das fiel mir auf, als ich eines Morgens nach einer Nacht mit einer anderen Affäre aus meinem WG-Zimmer kam. Mein Mitbewohner grinste mich an und fragte: "Und, wie war’s?" Ich antwortete begeistert: "Es hat gar nicht weh getan!" Er guckte mich verwirrt an und fragte: "Okay. Aber war es denn auch gut?" Mir wurde klar, wie niedrig meine Ansprüche an guten Sex waren. Das Skript zu verändern, ist bis heute eine Herausforderung für mich. Als Jugendliche und noch bis in meine Zwanziger hinein hatte ich ganz einfach keine Worte dafür und keine Alternative im Kopf. Ich wünschte, ich hätte im Sexualkundeunterricht nicht nur gelernt, wie Fortpflanzung funktioniert, sondern auch, wie ich sagen kann, was ich will und was ich nicht will – und vor allem, dass ich ein Recht dazu habe. ## Sexuelle Bildung Das versuchen Ulf Gronau und Silke Sundermeier von pro familia Hannover Jugendlichen in Workshops zu vermitteln. Beide Sozialarbeiter*innen arbeiten schon lange in der sexuellen Bildung, unter anderem mit Schulklassen. Gerade in der Pubertät sei es besonders schwer, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu artikulieren. Denn in dieser Lebensphase sei es wichtig, von anderen gemocht zu werden, die Unsicherheiten mit dem eigenen Körper seien größer und man habe noch nicht viel Erfahrung. Gronau und Sundermeier beobachten, dass es beim Thema ungewollter Sex große Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Die Mädchen würden häufig von sich aus danach fragen, wie sich solche Situationen vermeiden ließen; Jungs würden das Thema kaum ansprechen. "Sie stellen sich oft gar nicht die Frage: Will ich überhaupt?", sagt Ulf Gronau. "Dadurch fällt es vielleicht noch schwerer, die Grenzen anderer wahrzunehmen." Silke Sundermeier diskutiert in den Mädchengruppen, wie genau sich ausdrücken lässt, was wir mögen und was nicht. Die Hand der anderen Person an die richtige Stelle zu führen oder Sätze wie: "Ich mag es lieber, wenn du…", könnten zum Beispiel hilfreich sein – gerade wenn man Angst hat, die andere Person zurückzuweisen. Mit dem*der Partner*in auch in nicht sexuellen Situationen über Sex zu sprechen, mache es dann später im Bett einfacher. Sundermeier mache den Mädchen aber auch klar, dass es manchmal nicht leicht sei, genau zu wissen und auszudrücken, was man möchte und was nicht, und dass die Mädchen damit nicht alleine seien. In meiner letzten Beziehung ließen wir es mit dem Sex ganz langsam angehen. Mein Partner fragte mich von Anfang an, was ich mag und was nicht, und setzte auch selbst Grenzen. Dadurch fühlte ich mich noch mehr berechtigt, das auch zu tun. Das Vertrauen, das wir miteinander aufbauten, machte es leichter für mich, das Nein-Sagen zu üben. Und auch zu sagen, was mir gefällt. Denn beides hängt miteinander zusammen, wie Sexualtherapeutin Margret Hauch aus Hamburg erklärt: "Wenn ich nicht sagen kann, was ich will, muss ich immer hoffen, dass es der Andere errät. Dann komme ich in Situationen wie: Es ist jetzt gerade nicht gut, aber wenn ich eine halbe Minute warte, wird es vielleicht besser." Bei meinem letzten Date nahm ich im Fahrstuhl zu meiner Wohnung meinen Mut zusammen und sagte: "Für viele Leute bedeutet ja zusammen nach Hause gehen automatisch Sex. Ich wollte nur einmal sagen, dass das für mich nicht so ist." "Gut, dass du das ansprichst", antwortete mein Date und oben auf meinem Balkon fühlte es sich auf einmal viel leichter an, über intime Dinge zu sprechen, auch über meine Schmerzen beim Penetrationssex. Bei allem, was danach passierte, konnte ich mich mehr entspannen als sonst. Zu sagen, was ich nicht mochte, fühlte sich weniger unangenehm an, weil wir bereits über Sex gesprochen hatten. Trotzdem: Auch mit 30 kostet es mich noch Überwindung, das Skript zu durchbrechen, gerade mit neuen Sexpartner*innen. Es reicht nicht, die eigenen Grenzen zu artikulieren. Das Gegenüber muss sie auch respektieren. Doch an dem Abend auf meinem Balkon hatte ich genau die Art von sexueller Interaktion, auf die ich gerade Lust hatte – nicht wie in jener kalten Nacht mit 17.