<style> .reveal p { font-size: 30px; text-align: left; } .reveal li { font-size: 30px; text-align: left; } .reveal td { font-size: 30px; } </style> # Versammlungs-freiheit --- ![](https://live.staticflickr.com/4196/34104354274_f8ba396f14_b.jpg) --- ## Sachverhalt B ist spanische Staatsbürgerin und lebt in Frankfurt. An einem Wochenende im Juli 2019 besucht sie den Christopher Street Day in Frankfurt. Auf dem Transparent, das B mit sich trug, war zu lesen: "Stonewall was a riot! No cops at Pride!". Außerdem führte B auf einem Handwagen einen Lautsprecher mit sich. Diesen benutzte sie unter anderem für folgende Durchsagen: "Bullen raus aus der Parade! No cops at Pride! Zivile Bullen raus aus der Parade - und zwar sofort!". Die zuständige Versammlungsbehörde hatte unter dem Unterpunkt "Kundgebungsmittel / Versammlungshilfsmittel" verfügt, dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit der Versammlung stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen. --- Wegen Nichtbeachtung der beschränkenden Auflagen wird die B gemäß § 29 I Nr. 3 i.V.m. § 15 VersG zu einer Geldstrafe verurteilt. Zur Begründung führte das Amtsgericht unter anderem aus, es bestünden keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Auflage. Es sei bereits zweifelhaft, ob die CSD-Parade überhaupt in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit falle. Schließlich werde hier lediglich das Lebensgefühl einer Subkultur zur Schau gestellt. Selbst wenn man jedoch von einer kollektiven Meinungsbildung und -kundgabe ausgehe, entfalle dieser Zweck, wenn der Einsatz elektronischer Verstärker allein oder hauptsächlich anderen Zwecken als der Meinungskundgabe zu versammlungsbezogenen Themen diene. --- Nachdem sie den ordentlichen Rechtsweg erschöpft hat, erhebt B form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde und rügt damit eine Verletzung in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG. --- Die Verfassungsbeschwerde der B hat Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist. --- ## A. Zulässigkeit --- ### I. Zuständigkeit des BVerfG Das Bundesverfassungsgericht ist gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG für die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden zuständig. --- ### II. Beschwerdefähigkeit - beschwerdefähig ist grundsätzlich jedermann - jedermann ist, wer Träger von Grundrechten sein kann Note: - die EU-Bürgerschaft der B könnte auch hier angesprochen werden - Prozessfähigkeit kann hier weggelassen werden --- ### IV. Beschwerdegegenstand - tauglicher Beschwerdegegenstand ist grundsätzlich jeder Akt öffentlicher Gewalt, Art. 1 III GG - B wendet sich gegen Amtsgerichtsurteil als Akt der Judikative Note: - kein Beschwerdegegenstand ist der Bußgeldbescheid - B hat sich entschieden nur gegen das letztinstanzliche Urteil vorzugehen --- ### V. Beschwerdebefugnis - Wortlaut § 90 I BVerfGG Behauptung einer Grundrechtsverletzung ausreichend - um Popularklagen auszuschließen: Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung (Möglichkeitstheorie) --- #### 1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung - Grundrechtsverletzung dürfte nicht von vornherein ausgeschlossen sein - möglich erscheint Verletzung aus Art. 8 I GG oder Art. 2 I GG - B ist als spanische Staatsbürgerin EU-Bürgerin - Art. 18 AEUV verbietet Diskriminierungen - nach europarechtskonformer Auslegung ist B beschwerdefähig Note: - AEUV als "Verfassung" der EU (gemeinsam mit EUV) - in Art. 18 AEUV steht, dass aufgrund der Staatsangehörigkeit nicht diskriminiert werden darf - wichtig - hier nur kurz ansprechen, um es später wieder aufzugreifen --- #### 2. Eigene, gegenwärtige, unmittelbare Beschwer - B ist durch das Urteil selbst gegenwärtig und unmittelbar betroffen --- ### VI. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität - B hat den Rechtsweg erschöpft, § 90 II 1 BVerfGG - keine anderweitigen Möglichkeiten, das Urteil anzugreifen --- ### VII. Frist und Form - Formerfordernis des § 23 BVerfGG erfüllt - Frist des § 93 I 1 BVerfGG gewahrt --- ### VIII. Ergebnis der Zulässigkeit Die Verfassungsbeschwerde der B ist zulässig --- ## B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde der B ist begründet, wenn das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt sie in ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Es überprüft das Urteil nur im Hinblick auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. --- ### I. Schutzbereich Der Schutzbereich müsste in persönlicher und sachlicher Hinsicht eröffnet sein. --- #### 1. Persönlicher Schutzbereich - Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 GG: Deutsche Staatsbürger i.S.d Art. 116 GG - Aber: Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV - Lösungsmöglichkeiten: - **Entweder**: Anwendung der Deutschengrundrechte unter Überschreitung der Wortlautgrenze - **Oder**: Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG Note: - Jedoch sieht Art. 23 I 2, 3 GG ausdrücklich vor, dass durch das europäische Primärrecht - in den Grenzen des Art. 79 III GG - auch das Grundgesetz geändert werden kann - Ansonsten müssten Schutzbereich/Schranken aus Art. 8 auf Art. 2 übertragen werden --- #### 2. Sachlicher Schutzbereich > "Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet, wenn es sich bei der CSD-Parade um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG handelt und das sanktionierte Verhalten der B zu den von Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Verhaltensweisen zählt."" --- ##### a) Versammlungsbegriff - Versammlung: Zusammenkommen mehrerer zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks - Problem: Welche Anforderungen muss der Zweck erfüllen? (Unterscheidung zwischen engem und weitem Versammlungsbegriff) - Welche sind denkbar? Genügt insbesondere eine dem äußeren Erscheinungsbild nach überwiegend gesellige Veranstaltung den Anforderungen? --- - Genügt jeder Zweck? - Nur gemeinsame Meinungsbildung / Äußerung aufgrund enger Verbindung zu Art. 5 GG? - Meinungsbildung ausschließlich bezogen auf öffentliche Belange? - Wäre CSD Parade von den Ansichten erfasst? Note: - wenn bereits öffentliche Belange betroffen sind, muss der Streit nicht entschieden werden - Partystimmung spricht gegen öffentliche Belange (Problem - Loveparade) --- - Öffentliche Meinungskundgabe: Zugehörigkeit zur LGBTQI+ Bewegung geht mit Ablehnung von Minderheitendiskriminierung der Mehrheitsgesellschaft einher - nicht ausschließlich auf Geselligkeit gerichtet - Versammlung liegt vor --- ##### b) Lautsprecherdurchsage als Teil der Versammlungsfreiheit - Verwendung von Lautsprechern / Megaphonen als Hilfsmitteln grds. erfasst - körperliche Sichtbarmachung gemeinsamer Überzeugungen - auch vor historischem Hintergrund legitimes Anliegen, Polizisten aus der Versammlung auszuschließen Note: - schon ohne CSD wäre es ein legitimes Interesse, die Polizei außerhalb der Versammlung zu halten - erst recht in Anknüpfung an CSD (Gewalt gegenüber Minderheiten) --- #### 3. Zwischenergebnis Schutzbereich Der Schutzbereich ist in persönlicher und sachlicher Hinsicht eröffnet --- ### II. Eingriff - klassischer Eingriffsbegriff: Jedes Verhalten, das final und unmittelbar, rechtsförmig und imperativ das in den Schutzbereich fallende Verhalten zumindest erschwert - Urteil belegt ein von dem Schutzbereich umfasstes Verhalten mit Bußgeld - Eingriff liegt vor --- ### III. Rechtfertigung Fraglich ist, ob der Eingriff in den Schutzbereich verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann --- #### 1. Einschränkbarkeit - Art. 8 Abs. 1 GG nicht unbeschränkt gewährleistet - Bei Versammlungen unter freiem Himmel: einfacher Gesetzesvorbehalt, Art. 8 II 2 GG Note: - unter freiem Himmel = nach außen frei zugänglich (Gefahr ist größer, stärkere Einschränkungsmöglichkeit) --- #### 2. Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage - Urteil ist aufgrund der §§ 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 VersG ergangen - an der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage bestehen keine Zweifel Note: - Bearbeitungshinweis! --- #### 3. Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes - verfassungskonforme Anwendung des § 29 VersG? - grundrechtsbeschränkende Gesetze müssen im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden - wurde "demokratiekonstituierende Bedeutung" des Art. 8 Abs. 1 GG von dem Strafgericht ausreichend gewürdigt? --- - Schutzbereich des Art. 8 I GG erfasst auch Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen - Amtsgericht hat dies verkannt - Verweis auf entsprechende Auflage geht fehl Note: - hier kann nach oben verwiesen werden --- - Bußgeld zum Schutz anderer Rechtsgüter nötig? - Versammlungsfreiheit anderer Teilnehmer? - APR der Polizisten? --- - Lautsprecherdurchsage nicht geeignet, mehr als kurzfristige Irritation zu verursachen - allenfalls unerhebliche Unruhe - keine Verletzung APR der Polizisten --- #### Zwischenergebnis: § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 VersG wurde nicht verfassungskonform angewendet. Der Eingriff in den Schutzbereich ist nicht gerechtfertigt. --- #### IV. Ergebnis zur Begründetheit ##### Die Verfassungsbeschwerde der B ist begründet. --- ### C. Gesamtergebnis #### Die Verfassungsbeschwerde der B ist zulässig und begründet. --- ### Vielen Dank! „Dieser Text steht unter der Lizenz CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de). Er beruht auf dem Werk von Sué González Hauck, in: [Grundrechte-Fallbuch](https://de.wikibooks.org/wiki/OpenRewi/_Grundrechte-Fallbuch/_Fall_6), ebenfalls veröffentlicht unter der Lizenz CC BY-SA 3.0. Für Änderungen ist allein der/die Urheber*in dieser Überarbeitung verantwortlich.“
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